Chaussee der Enthusiasten
Die letzte Show



LESEBÜHNE - 20:00 Uhr
Nur noch am Mittwoch, dem 9.12. in der Alten Kantine

Dienstag, 10. Mai 2016

Abschied von den Klemmmappen

Sieben Kilogramm Chaussee-Texte aus den Klemmmappen entfernt und in die Papiermülltüte gestopft. Die ersten Texte noch zerrissen, dann wurde diese Mühe zu viel und ich stopfe sie stapelweise hinein.

Es gleicht einem Entsorgen der eigenen Geschichte. An manchen Mappen habe ich so sehr gehangen. Fast glaube ich noch, an der blauen Mappe, mit der alles begann, den Zigarettenrauch des Bergwerk und des Cube Club zu riechen. Manche Texte zigmal korrigiert. Völlig zerknittert die Hits, die ich bei manchen Auftritten zu A6 gefaltet in der Hosentasche trug. Andere Texte waren Mist. Einmal bei der Chaussee gelesen, bei mir selbst und dem Publikum durchgefallen. Sie blieben dennoch in der Mappe. Peinlicher Sprachmüll, der mich mahnt, jungen Autoren gegenüber nachsichtig zu sein. Die Klemmmappe von 2006 war die prallste. Nie wieder hatte ich einen solchen Ausstoß an Kurzgeschichten. Nie wieder war die Chaussee so erfolgreich wie in jenem Jahr.
Als ich mir 2012 ein Lesegerät zulegte, hörte ich auf, Texte auszudrucken. Sie nahmen einfach zu viel Platz weg. In dem Notizbuch großen Gerät könnte ich das Äquivalent einer kompletten Bibliothek transportieren. Jochen Schmidt bemängelte, es sähe auf der Bühne nicht gut aus, wenn man aus dem Reader vorlese. Papier hingegen wirke wie gerade geschrieben. Und ab Mitte 2015 beherzigte ich seinen Rat wieder. Ich druckte die Texte aus (und warf sie nach der Lesung wieder weg, nicht ohne sie auf dem Reader abzuspeichern). Vielleicht war mein Umstieg auf den E-Leser der letzte Sargnagel für die Chaussee der Enthusiasten. Kurz danach stieg Kirsten Fuchs aus und bald darauf Robert Naumann. Die Chaussee war immer eine sechssaitige Gitarre gewesen. Nun weiß jeder Gitarrist, dass man mit fünf Saiten noch einigermaßen spielen kann. Aber mit vier Saiten klingt es eben auch nicht mehr nach Gitarre. Seit Januar 2016 bin ich nur noch meine eigene Saite. Ich muss aufpassen, dass ich nicht verstumme. In den Monaten seitdem habe ich so wenige Kurztexte wie noch nie seit 1999 geschrieben.
Die Mappen liegen leer aufgestapelt auf meinem Tisch wie Tierhäute. Die Papiermülltüte wartet. Ich flüstere den Texten ein kleines „Danke und tschüss!“ zu, dann gehe ich die Treppe hinunter und werfe die Tüte in den Altpapiercontainer.
Dan Richter

1 Kommentar:

  1. Matteo Iacovella6.7.16

    Der Gedanke, etwas Gutes wegzuschmeißen, hat mich immer krankgemacht. Erstmal irgendwo ablegen, abspeichern, aufschreiben, wenn auch auf einer benutzten Serviette – erst dann konnte ich löschen. Obwohl es ja nur ein Trug war: Vollständig wurde nichts gelöscht. Spuren blieben noch: Wenn auch auf einer benutzten Serviette. Es gab mir ein kleines und verfälschtes Gefühl der Freiheit, aber ich wusste gleichzeitig, dass ich etwas Gutes geschrieben hatte und dass dies irgendwo blieb, noch lebte. Die Tatsache, dass ich ab und zu die Serviette oder den Zettel mit den paar Versen auf 50° gewaschen habe und somit auf ewig gelöscht hatte, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.
    Erst heute lerne ich allmählich zu sortieren, das Geschriebene eventuell ja reuelos löschen. Und jedes Mal, bei jedem neuen Löschen und Wegwerfen, bei jeder neuen Vernichtung muss ich Neues finden, erfinden, entdecken, entwerfen, verfassen, erweitern, weglassen. Seit ich mein eigenes Geschriebene zu vernichten gelernt habe, gedeiht die Phantasie, entstehen mir Ideen vor Augen. Und die Freude am Schreiben, wie gefällte Bäume, wächst stärker und dichter, wird Dicht-ung.

    AntwortenLöschen