Chaussee der Enthusiasten
Die letzte Show



LESEBÜHNE - 20:00 Uhr
Nur noch am Mittwoch, dem 9.12. in der Alten Kantine

Donnerstag, 17. Dezember 2015

Lost in Innsbruck - Wie AC/DC ohne AC und DC

Eine Woche ohne Chaussee der Enthusiasten, Zeit einmal einen älteren Text zu posten, der das Gefühl ganz gut beschreibt. 2008 waren wir in Innbruck zu Gast und die anderen sind ohne mich aus dem Hotel losspaziert. Natürlich war, wie alles im Leben, auch das sofort wieder Anlaß für einen Text. JS



Lost in Innsbruck
Das mußte ein Irrtum sein, an der Rezeption hatte es geheißen, meine Kollegen seien schon losgegangen. Ich war nur kurz auf dem Zimmer gewesen, um die Geschenke zu holen, mit denen ich sie unterwegs überraschen wollte, aber anscheinend hatte keiner von ihnen mitbekommen, daß ich den Ausflug zur Innsbrucker Hungerburgbahn mitmachen wollte. Dabei war heute der letzte Tag an dem die Bahn fahren würde, ab morgen würde sie durch die neugebaute Bahn ersetzt. Über 100 Jahre, und ich war nie damit gefahren! Und jetzt war es zu spät, meine Freunde hatten mich vergessen. Sie waren einfach losgegangen ohne sich umzudrehen. Zum ersten Mal seit acht Jahren war ich allein auf der Welt.


 Ich mußte sie finden, sie konnten noch nicht weit sein. Aber in den engen Gassen Innsbrucks suchte ich sie vergebens. Überall wo ich war, konnten sie gerade gewesen sein. Wo ich nicht war, konnten sie gerade sein. Meine einzige Chance, sie zu finden, wäre gewesen, mich mit Lichtgeschwindigkeit zu bewegen, denn das Licht ist überall gleichzeitig. Realistisch war das nicht. Warum hatten sie mich bloß vergessen? Merkten sie überhaupt, daß ich fehlte? Ich war so allein, ich würde nicht schimpfen, wenn ich sie nur wiederfände. Höchstens eine Ohrfeige, damit sie sich merkten, in Zukunft besser aufzupassen, aber dann auch gleich ein Kuß, weil ich so erleichtert wäre.


So allein, wie ich war, konnte ich nichts mehr genießen. Innsbruck, diese schöne Stadt in den Alpen, war plötzlich ganz häßlich für meine Augen. Mein Leben schien mir sinnlos, ohne meine Freunde. Alles war fade geworden.


Es kam mir vor als stände eine Wand zwischen mir und den Dingen. Ich konnte an nichts anderes denken. Ich war allein, ausgeschlossen von den Spielen der anderen. Man hatte mich vergessen, sie wußten nicht, wie es mir ging, weil sie ihre Telefone ausgestellt hatten. Oder war das Absicht gewesen? Hatten sie mich gar nicht vergessen, sondern abschütteln wollen? Schon auf der Bahnfahrt hatte niemand neben mir sitzen wollen, weil ich an Blähungen litt. Aber daß sie mich deshalb ausschlossen?


Ihre Telefone waren aus. Es war Sonnabend. Wenn ich ihnen schreiben wollte, mußte ich in dieser Stadt das Wochenende abwarten. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, in meiner jetzigen Verfassung auch nur den heutigen Tag zu überstehen.


Wenn man verlassen wurde, ist man ungerecht zu sich und der Welt. Man sieht nur noch das Negative. Eine Stunde irrte ich atemlos durch die Gassen Innsbrucks. Italienische Reisegruppen wurden herumgeführt. So viele Menschen, aber blieb einer zurück, warteten die anderen und riefen den Verirrten wieder heran. Auf Weihnachtsmärkten drängten sich die Menschen und freuten sich auf das Fest, aber für mich würde es in diesem Jahr kein Weihnachten geben, ich war ein Ausgeschlossener, denn meine Freunde fuhren ohne mich mit der Hungerburgbahn.


Das schlimmste war: ich konnte mit ihnen nicht abschließen und meinen Kummer hinter mir lassen, alles schien mich an sie zu erinnern! Bohni, der jede Woche vor der Show ein mit Boulette belegtes Brötchen gegessen hatte. Wie oft hatte ich ihn verspottet, weil er sich so schlecht ernährte, jetzt tat es mir leid. Sollte er doch Boulettenbrötchen essen, wenn sie ihm schmeckten! Wie lieblich seine Bouletten in meiner Erinnerung dufteten, jetzt, wo ich sie vielleicht nie mehr riechen würde.


Und Stephan, der wegen seiner Füße als Kind ein halbes Jahr in Gips gelegen hatte und damals nur Freunde aus der Gipsszene hatte. Hätte ich ihm nicht jede Ungerechtigkeit verzeihen müssen, wo das Leben so ungerecht zu ihm gewesen war? Das Knirschen seiner orthopädischen Schuhe, es war längst ein Stück Heimat für mich geworden.


Dan, der sich mit Mozart auskannte, wie kein zweiter. Er hatte alle seine CDs. Und ich hatte diesem Habsburger Perrückenpudel nie etwas abgewinnen können. Ich summte vor mich hin: Ba, baba, babababababaaa… So übel war das doch gar nicht. Schade, daß Dan mich jetzt nicht hören konnte.


Robert, wie oft hatte er mich nicht verstanden, weil ich immer so nuschele. Selbst, wenn ich ihm direkt ins Ohr sprach. Warum war ich dann immer so unfreundlich und weigerte mich, das Gesagte zu wiederholen? Und wenn es fünfmal sein mußte, das machte doch nichts, schließlich war er schwerhörig. Ach, ich war ein schlechter Mensch. Wie hatten sie es nur so lange mit mir ausgehalten?


Und schließlich Volker, der immer so dicke Science-Fiction-Bücher las, 1000 Seiten und mehr. Hätte ich nicht auch mal eins lesen sollen? Und wenn es drei Jahre dauerte, ich mußte doch versuchen, mich den Interessen meiner Freunde zu öffnen. Immerhin sahen UFOs aus wie Hamburger, und die hatten mir doch immer geschmeckt.


Ich irrte durch die Straßen Innsbrucks, überall sah ich Zeichen, die für mich gemeint sein konnten. Aber selbst, wenn es so war, was sollten sie bedeuten?


Warum konnten sie sich nicht eindeutiger ausdrücken? Was sollte immer diese verschrobene Art? Aber nein, ich wollte mich nicht ärgern, meistens war man doch selber schuld, wenn man etwas nicht mitbekam. Ein Pfeil geradeaus, einer nach rechts, das war sicher ganz logisch, und es lag nur an mir, wenn ich den Sinn nicht verstand.


Vor den Auslagen eines Shops überlegte ich, was ich ihnen schenken würde, wenn ich sie je wiedersehen sollte. Es müßte etwas ausgefallenes sein, ein Grillkoffer. Wir hatten noch nie zusammen gegrillt, mit so einem Koffer wäre daran zu denken gewesen.


Oder eine elektrische Pfeffermühle? Dann wäre das Würzen wemiger anstrengend. Vor allem im Alter ein Segen, wenn die schwächer werdenden Geschmackspapillaren nach mehr Pfeffer verlangten und den Händen das Drehen an der Peffermühle zu mühselig wurde. Aber ach, es war ja sowieso zu spät, sie waren ohne mich fort.


Warum konnte ich nicht einfach einen Schlußstrich ziehen und mich neu orientieren? Warum konnte ich meine Freunde nicht vergessen? Warum erinnerte mich alles, was ich sah an sie? War Robert hier gewesen, der so gerne Bier trank?


Führte diese Spur zu Bohni?


Ich fragte bei den Händlern nach, ob ein rothaariger Mann bei ihnen Zigaretten gekauft hatte. Aber nichts. Hatte Bohni ihnen gesagt, sie sollten mir nichts erzählen?


Sekt? Kuchen? Selterswasser? Hatten sie ohne mich eine Party gefeiert? Ich war so eifersüchtig.


Vielleicht hatten sie neue Freunde gefunden und mich längst vergessen? Und ich konnte nicht aufhören, an sie zu denken... Wie ungerecht.


Ich war verlassen worden, mein Leben schien mir sinnlos. Ich konnte mich für nichts mehr interessieren. Nicht einmal daß man in Innsbruck die ostdeutsche Literatur verehrte, konnte mich trösten.


Was war man ohne seine Freunde? Ein Nichts! Wie AC/DC ohne AC und DC.


Ich brauchte Hilfe in meiner Situation. Ich mußte mein Leben wieder in den Griff bekommen. Dr. Ina Blaas, Diplom Lebens- und Sozialberaterin nahm mich in Behandlung. Ihre unkonventionellen Methoden zeitigten schnelle Erfolge.


Sie lehrte mich, nicht immer alles schwarz zu sehen! Wenn man ehrlich war, gab es genauso viel Weiß zu entdecken.


Man mußte Freude an den kleinen Dingen im Leben gewinnen. Wie lange hatte ich mir schon keine Blumen mehr fürs Fahrrad gekauft?


Man mußte dankbar sein für das, was man hatte.


Dann sah auch Innsbruck wieder so schön aus wie vorher.


Dann war jeder Tag ein Fest.

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