Eine Woche ohne Chaussee der Enthusiasten, Zeit einmal einen älteren Text zu posten, der das Gefühl ganz gut beschreibt. 2008 waren wir in Innbruck zu Gast und die anderen sind ohne mich aus dem Hotel losspaziert. Natürlich war, wie alles im Leben, auch das sofort wieder Anlaß für einen Text. JS
Lost in Innsbruck
Das mußte ein Irrtum sein,
an der Rezeption hatte es geheißen, meine Kollegen seien schon
losgegangen. Ich war nur kurz auf dem Zimmer gewesen, um die
Geschenke zu holen, mit denen ich sie unterwegs überraschen wollte,
aber anscheinend hatte keiner von ihnen mitbekommen, daß ich den
Ausflug zur Innsbrucker Hungerburgbahn mitmachen wollte. Dabei war
heute der letzte Tag an dem die Bahn fahren würde, ab morgen würde
sie durch die neugebaute Bahn ersetzt. Über 100 Jahre, und ich war
nie damit gefahren! Und jetzt war es zu spät, meine Freunde hatten
mich vergessen. Sie waren einfach losgegangen ohne sich umzudrehen.
Zum ersten Mal seit acht Jahren war ich allein auf der Welt.
So allein, wie ich war,
konnte ich nichts mehr genießen. Innsbruck, diese schöne Stadt in
den Alpen, war plötzlich ganz häßlich für meine Augen. Mein Leben
schien mir sinnlos, ohne meine Freunde. Alles war fade geworden.
Es kam mir vor als stände
eine Wand zwischen mir und den Dingen. Ich konnte an nichts anderes
denken. Ich war allein, ausgeschlossen von den Spielen der anderen.
Man hatte mich vergessen, sie wußten nicht, wie es mir ging, weil
sie ihre Telefone ausgestellt hatten. Oder war das Absicht gewesen?
Hatten sie mich gar nicht vergessen, sondern abschütteln wollen?
Schon auf der Bahnfahrt hatte niemand neben mir sitzen wollen, weil
ich an Blähungen litt. Aber daß sie mich deshalb ausschlossen?
Ihre Telefone waren aus. Es
war Sonnabend. Wenn ich ihnen schreiben wollte, mußte ich in dieser Stadt das
Wochenende abwarten. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, in meiner
jetzigen Verfassung auch nur den heutigen Tag zu überstehen.
Wenn man verlassen wurde,
ist man ungerecht zu sich und der Welt. Man sieht nur noch das
Negative. Eine Stunde irrte ich atemlos durch die Gassen Innsbrucks.
Italienische Reisegruppen wurden herumgeführt. So viele Menschen,
aber blieb einer zurück, warteten die anderen und riefen den Verirrten
wieder heran. Auf Weihnachtsmärkten drängten sich die Menschen und
freuten sich auf das Fest, aber für mich würde es in diesem Jahr
kein Weihnachten geben, ich war ein Ausgeschlossener, denn meine
Freunde fuhren ohne mich mit der Hungerburgbahn.
Das schlimmste war: ich
konnte mit ihnen nicht abschließen und meinen Kummer hinter mir
lassen, alles schien mich an sie zu erinnern! Bohni, der jede Woche
vor der Show ein mit Boulette belegtes Brötchen gegessen hatte. Wie
oft hatte ich ihn verspottet, weil er sich so schlecht ernährte,
jetzt tat es mir leid. Sollte er doch Boulettenbrötchen essen, wenn
sie ihm schmeckten! Wie lieblich seine Bouletten in meiner Erinnerung
dufteten, jetzt, wo ich sie vielleicht nie mehr riechen würde.
Und Stephan, der wegen
seiner Füße als Kind ein halbes Jahr in Gips gelegen hatte und
damals nur Freunde aus der Gipsszene hatte. Hätte ich ihm nicht jede
Ungerechtigkeit verzeihen müssen, wo das Leben so ungerecht zu ihm
gewesen war? Das Knirschen seiner orthopädischen Schuhe, es war
längst ein Stück Heimat für mich geworden.
Dan, der sich mit Mozart
auskannte, wie kein zweiter. Er hatte alle seine CDs. Und ich hatte
diesem Habsburger Perrückenpudel nie etwas abgewinnen können. Ich
summte vor mich hin: Ba, baba, babababababaaa… So übel war das
doch gar nicht. Schade, daß Dan mich jetzt nicht hören konnte.
Robert, wie oft hatte er
mich nicht verstanden, weil ich immer so nuschele. Selbst, wenn ich
ihm direkt ins Ohr sprach. Warum war ich dann immer so unfreundlich
und weigerte mich, das Gesagte zu wiederholen? Und wenn es fünfmal
sein mußte, das machte doch nichts, schließlich war er schwerhörig.
Ach, ich war ein schlechter Mensch. Wie hatten sie es nur so lange
mit mir ausgehalten?
Und schließlich Volker,
der immer so dicke Science-Fiction-Bücher las, 1000 Seiten und mehr.
Hätte ich nicht auch mal eins lesen sollen? Und wenn es drei Jahre
dauerte, ich mußte doch versuchen, mich den Interessen meiner
Freunde zu öffnen. Immerhin sahen UFOs aus wie Hamburger, und die
hatten mir doch immer geschmeckt.
Ich irrte durch die Straßen
Innsbrucks, überall sah ich Zeichen, die für mich gemeint sein
konnten. Aber selbst, wenn es so war, was sollten sie bedeuten?
Warum konnten sie sich
nicht eindeutiger ausdrücken? Was sollte immer diese verschrobene
Art? Aber nein, ich wollte mich nicht ärgern, meistens war man doch
selber schuld, wenn man etwas nicht mitbekam. Ein Pfeil geradeaus,
einer nach rechts, das war sicher ganz logisch, und es lag nur an
mir, wenn ich den Sinn nicht verstand.
Vor den Auslagen eines
Shops überlegte ich, was ich ihnen schenken würde, wenn ich sie je
wiedersehen sollte. Es müßte etwas ausgefallenes sein, ein
Grillkoffer. Wir hatten noch nie zusammen gegrillt, mit so einem
Koffer wäre daran zu denken gewesen.
Oder eine elektrische
Pfeffermühle? Dann wäre das Würzen wemiger anstrengend. Vor allem
im Alter ein Segen, wenn die schwächer werdenden
Geschmackspapillaren nach mehr Pfeffer verlangten und den Händen das
Drehen an der Peffermühle zu mühselig wurde. Aber ach, es war ja
sowieso zu spät, sie waren ohne mich fort.
Warum konnte ich nicht
einfach einen Schlußstrich ziehen und mich neu orientieren? Warum
konnte ich meine Freunde nicht vergessen? Warum erinnerte mich alles,
was ich sah an sie? War Robert hier gewesen, der so gerne Bier trank?
Führte diese Spur zu
Bohni?
Ich fragte bei den Händlern
nach, ob ein rothaariger Mann bei ihnen Zigaretten gekauft hatte.
Aber nichts. Hatte Bohni ihnen gesagt, sie sollten mir nichts
erzählen?
Sekt? Kuchen?
Selterswasser? Hatten sie ohne mich eine Party gefeiert? Ich war so
eifersüchtig.
Vielleicht hatten sie neue
Freunde gefunden und mich längst vergessen? Und ich konnte nicht
aufhören, an sie zu denken... Wie ungerecht.
Ich war verlassen worden,
mein Leben schien mir sinnlos. Ich konnte mich für nichts mehr
interessieren. Nicht einmal daß man in Innsbruck die ostdeutsche
Literatur verehrte, konnte mich trösten.
Was war man ohne seine
Freunde? Ein Nichts! Wie AC/DC ohne AC und DC.
Ich brauchte Hilfe in
meiner Situation. Ich mußte mein Leben wieder in den Griff bekommen.
Dr. Ina Blaas, Diplom Lebens- und Sozialberaterin nahm mich in
Behandlung. Ihre unkonventionellen Methoden zeitigten schnelle
Erfolge.
Sie
lehrte mich, nicht immer alles schwarz zu sehen! Wenn man ehrlich
war, gab es genauso viel Weiß zu entdecken.
Man mußte Freude an den
kleinen Dingen im Leben gewinnen. Wie lange hatte ich mir schon keine
Blumen mehr fürs Fahrrad gekauft?
Man mußte dankbar sein für
das, was man hatte.
Dann sah auch Innsbruck
wieder so schön aus wie vorher.
Dann war jeder Tag ein
Fest.
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